Das Büro ruft und keiner geht hin – warum Präsenzpflicht Quatsch ist

Eine ganze Zeit war es still geworden um sie. Sehr still sogar. Doch mit dem Auslaufen der SARS-CoV-2 Arbeitsschutzverordnung am 25. Mai 2022 ist auch sie wieder da: Die Rede ist von der Debatte um „die Rückbeorderung der Mitarbeitenden aus dem Homeoffice“, denn „eine Pflicht des Angebots von Homeoffice“ besteht seither nicht mehr. Das selbst große Firmen nicht davor gefeit sind, bei diesem Thema Irritationen auszulösen, demonstrieren die jüngsten Beispiele zweier Weltkonzerne. An dieser Stelle lässt sich explizieren, was bisher eher als dumpfe kollektive Vorahnung in den Organisationen vorherrschte, nämlich dass der Wegfall des allgemeingültigen Formalprogramms (SARS-CoV-2 Arbeitsschutzverordnung) Unsicherheiten provoziert und Komplexitäten erzeugt, die das Programm in Organisationen vormals zu reduzieren suchte. Salopp gesagt: Dadurch, dass das offizielle Reglement wegbricht, werden nun Antworten auf Fragen gesucht, die sich vorher gar nicht gestellt haben. Das klingt in vielen Organisationen derzeit so:  

„Wie bekommen wir die Leute wieder zurück ins Büro und wer entscheidet das eigentlich?“ 

„Welchen Modus der Zusammenarbeit wollen wir einschlagen? Und wie soll Kommunikation bei uns laufen?“ 

„Wie können hybride Teams geführt werden?“  

Die derzeitige Situation steht stellvertretend für unzählige weitere, die uns Kurswechsler: innen während unserer Beratungsmandate begegnen und sie lässt sich nur verstehen, wenn man zwischen der organisationssoziologischen und der psychologischen Perspektive switchen kann. Bereit?  

Denken wir uns die Menschen in Organisationen für einen Moment weg und stellen wir uns vor, dass eine Organisation nicht aus ihren Mitgliedern besteht, sondern aus der Kommunikation zwischen ihnen. Nehmen wir weiterhin an, dass jede Organisation ihr Eigenleben hat und sich fortwährend von ihrer Umwelt abgrenzt und sich an diese anpasst. Unterbleibt die Anpassung, bedroht dies also zwangsläufig das Fortbestehen der Organisation, bis diese irgendwann stirbt. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass alle Organisationen, die derzeit (noch) fortbestehen, sich durch eine mehr oder minder ausgeprägte Anpassungsfähigkeit auszeichnen. In den meisten Fällen ist diese Anpassungsfähigkeit in Organisationen jedoch ein derart komplexes Phänomen, dass es mit einem Gehirn schwer zu begreifen ist. Man könnte auch sagen:  

Die meisten Organisationen waren schon agil, bevor ihre Mitglieder überhaupt davon wussten.  

Dies markiert den großen Unterschied und einen Erklärungsansatz für viele Probleme zwischen Organisationen als soziale Systeme und ihren Mitgliedern mit ihren individuellen Psychen.  

Denn: Organisationen trachten nach fortlaufender Flexibilität, wohingegen menschliche Psychen nach Stabilität streben.  

Was bringt uns diese Perspektive nun im Hinblick auf die Homeoffice-Rückbeorderungssituation in vielen Unternehmen? Zunächst einmal die Möglichkeit zur Annahme, dass sich – formal entschieden oder nicht – schon ein angepasster Modus der Zusammenarbeit ergeben hat, woraus sich weiterhin schließen ließe, dass auch neue (funktionale) Kommunikationspfade zwischen den Mitgliedern der Organisation entstanden sind. – Entstanden im Zuge der herrschenden Rahmenbedingungen und sich vermutlich stark unterscheidend von den präpandemischen Kommunikationsgepflogenheiten.  

Durch die psychologische Brille geschaut, wohnt Fragen nach der allgemeinen Rückbeorderung der Menschen in die Büros oder dem Modus der Zusammenarbeit das zutiefst menschliche Bedürfnis inne, eine neue Stabilität herzustellen. Vielfach lässt sich in Organisationen beobachten, dass das Bestreben nach einer neuen Stabilität darin mündet, die alten postpandemischen Erfahrungsmuster zu reproduzieren, ausblendend, dass sich die Rahmenbedingungen und die Umweltanforderungen verändert haben. Will meinen: Auch das Auslaufen der SARS-CoV-2 Arbeitsschutzverordnung dreht die Lebenswelt der Organisationen nicht auf das präpandemische Level zurück.  

Und nu? Statt sich mit der pauschalen Frage „Wie bekommen wir die Leute wieder zurück ins Büro (…)?“ zu beschäftigen, könnte die Frage auch lauten, ob die derzeitige hybride oder virtuelle Form der Zusammenarbeit überhaupt ein Problem für die Wertschöpfung darstellt. Tut sie dies nicht, tun Entscheider: innen gut daran, der pauschalen Rückbeorderungsfrage nicht allzu viel Aufmerksamkeit zu schenken. Alternativ könnte sich dann dem zweiten Teil der Fragestellung „(…) und wer entscheidet das eigentlich“ zugewendet werden. Um es sehr plastisch zu formulieren: Wenn die Mitglieder einer Organisation nicht einmal die Entscheidung für ihren eigenen Arbeitsplatz verantworten dürfen, müsste sich doch zwangsläufig die Frage gestellt werden, worüber sie dann überhaupt entscheiden dürfen. Verantwortungssuppression per Default? In vielen Organisationen leider systemimmanent. Systemimmanent deswegen, weil ein starres Korsett aus Regeln, Arbeitsanweisungen und Prozessen die Mitglieder der Organisation zwar zur disziplinierten Ausführung anleitet, echte Verantwortungsübernahme damit jedoch systematisch verhindert wird. Denn Verantwortung übernimmt, wer die Regel erstellt und nicht, wer sie befolgt. Um nicht missverstanden zu werden: Gegen das Befolgen von Regeln ist nichts einzuwenden. Insbesondere dann nicht, wenn Regeln dort verhängt werden, wo ihr Einsatz Sinn ergibt – im vorrangig komplizierten Bereich. Komplexe Anteile einer Situation lassen sich jedoch weder regeln noch steuern.  

An dieser Stelle lässt sich bereits erahnen, weshalb die zentrale Rückbeorderung, als offizielle Regel verhängt, vermutlich mehr Probleme schafft, als diese zu lösen. Sie kann der Komplexität der Situation gar nicht in ausreichendem Maße Rechnung tragen. Dies erschließt sich schnell, führt man sich vor Augen, wie unterschiedlich die Bedürfnisse und Anforderungen von Einzelpersonen an die individuelle Gestaltung des Arbeitstages ausfallen. Weshalb einen alleinerziehenden Vater zwanghaft ins Büro zurückbeordern, wenn er sich durch das Homeoffice einen 30 km Arbeitsweg (Hin- und Rückweg) sparen kann und Berufstätigkeit und Privatleben dadurch besser unter einen Hut bekommt? Weshalb ganze Teams blindlings ins Office zurückbestellen, ohne sie nach den konkreten Rahmenbedingungen zu fragen, die sie wirklich benötigen, um Leistung erbringen zu können? Fernab der Frage, ob virtuell, hybrid oder vor Ort.  

Und vor allem: Grenzt es nicht nahezu an Zynismusbeförderung, wenn bedacht wird, dass man es den Mitgliedern der Organisationen qua Umständen zwei Jahren durchaus zutrauen konnte und teilweise auch zumuten musste, im Homeoffice zu arbeiten und ihnen dies mit dem Paukenschlag des 25. Mais 2022 plötzlich abspricht? Das passt nicht zusammen und könnte den kollektiven Glaubenssatz enttarnen, dass die Mitglieder der Organisation gar nicht wissen, was gut für sie ist, weshalb man es ihnen vorgeben müsse … Dem ist mitnichten so. Natürlich soll an dieser Stelle nicht darüber hinweggetäuscht werden, dass der Zusammenarbeit vor Ort eine hoch soziale Komponente inhärent ist, die sich in gleicher Manier bisher nicht virtuell abbilden lässt. Eine positive Beziehungsgestaltung, der Vertrauensaufbau sowie die emotionale Bindung – all das sind Faktoren, die sich in der Zusammenarbeit vor Ort leichter einstellen als in der rein virtuellen Zusammenarbeit. Wir Menschen sind eben soziale Wesen. Daran rüttelt auch eine zwei Jahre anhaltende Pandemie nicht. Echter Sozialkontakt ist unverzichtbar.  

Nichtsdestotrotz mögen doch die Teams selbst über ihren Modus der Zusammenarbeit entscheiden. Orientiert am Markt und am konkret zu lösenden Problem. Was natürlich auch Marktkontakt voraussetzt. Für das Denken in Organisationen bedeutet das einen Kurswechsel. Weg von der zentralen top-down Vorgabe und hin zu institutionalisierter Verantwortungsübernahme. Letztere beginnt jedoch nicht beim Mindset der Leute, die verhalten sich entsprechend des Kontextes schließlich immer vernünftig, sondern bei organisationalen Rahmenbedingungen die Komplexität nicht weiter negieren. Das gelingt beispielsweise über den klugen Gebrauch von Prinzipien. Denn im Gegensatz zu Regeln, machen Prinzipien keine konkreten Vorgaben, sondern spannen lediglich einen Handlungsrahmen für Verantwortungsübernahme, Kreativität und Selbstständigkeit auf. Wenn die Verantwortung einer Regel beim Regelerstellenden liegt, so liegt sie bei einem Prinzip bei demjenigen, der es zur Anwendung bringt. Eine logische Konsequenz aus dem Umstand, dass Prinzipien eben nicht mit konkreten Handlungsanweisungen aufwarten. Auf diesem Wege kann Verantwortungsübernahme systematisch institutionalisiert werden.  

Wenn die Regel also anordnet, dass mit dem Fallen der SARS-CoV-2 Arbeitsschutzverordnung alle Arbeitnehmer:innen einer Organisation per Dekret an ihre Office-Schreibtische zurückzukehren haben und damit jedwede Komplexität der Situation negiert, schweigt das Prinzip „Selbstorganisierte Teams vor Command and Control“ und überlässt die Entscheidung denjenigen, die es wohl am besten einzuschätzen wissen: Den Mitgliedern der Organisation selbst.  

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