Die Architektur des Entscheidens – Warum Unternehmen oft am eigenen Organigramm scheitern – und nicht an der Welt da draußen

Die Architektur des Entscheidens

Die Managementszene liebt das Drama. Kaum hat man sich an VUCA gewöhnt, tritt schon BANI auf die Bühne, gefolgt von der „permanenten Krise“, die sich im nächsten Quartal als Übergangsphase herausstellt, bevor die nächste Revolution ausgerufen wird. Die Schlagworte wechseln, die Stimmung bleibt: Unruhe. Doch hinter dieser Dauererregung verbirgt sich ein blinder Fleck – einer, der größer ist als jedes Buzzword. Während Unternehmen hektisch Programme wechseln, Purpose-Missionen verfassen und Scrum-Poster an die Wände hängen, bleibt eine Frage erstaunlich unberührt:

Wie genau kommen Entscheidungen in dieser Organisation eigentlich zustande?

Es ist eine Frage, die sich kaum jemand stellt, weil sie zu unscheinbar wirkt. Und gleichzeitig ist sie die wichtigste überhaupt. Denn Organisationen bestehen nicht aus Gefühlen, Visionen oder Teamgeist. Organisationen bestehen aus Entscheidungen. Und aus der Infrastruktur, die diese Entscheidungen möglich macht.

Die unsichtbare Infrastruktur: Entscheidungsprämissen

In den meisten Unternehmen werden Entscheidungen nicht gefeiert wie große Momente, sondern passieren wie Hintergrundrauschen. Irgendwo, irgendwann, irgendwie. Doch dieses „Irgendwie“ hat Struktur: Programme, Personal, Kommunikationswege. Programme legen fest, wie entschieden werden soll. Personal legt fest, wer entscheiden darf. Kommunikationswege legen fest, wo und mit wem entschieden wird. Und genau dort – in dieser unscheinbaren Topografie der Kommunikationswege – entscheidet sich die Wettbewerbsfähigkeit einer Organisation. Wer Strukturen verändert, verändert keine Boxen. Er verändert Wahrnehmung. Geschwindigkeit. Macht. Möglichkeitsräume. Oder, um es nüchtern zu sagen: Eine Organisation entscheidet nicht trotz ihrer Struktur – sie entscheidet durch sie.

Was Volatilität wirklich ist

Natürlich wirkt die Welt schneller. Natürlich fühlt sich alles komplexer an. Doch Volatilität ist kein Naturgesetz. Sie ist eine Relation: zwischen dem, was draußen passiert, und dem, wie drinnen entschieden wird. Je langsamer die Organisation, desto schneller erscheint ihre Umwelt. Eine Organisation, die Signale erst verdaut, nachdem sie dreimal durch Gremien gewandert sind, erlebt die Welt zwangsläufig als Sturm. Nicht, weil er stärker wäre – sondern weil die Organisation schwächer zuhört. Volatilität ist also weniger eine Bedrohung als ein Befund: Sie zeigt, wo die Struktur nicht mehr in Beziehung zur Realität steht, die sie bearbeiten soll.

Die funktional getrennte Organisation: Das Silo, das wir missverstehen

Die funktonal getrennte Organisation ist das Erfolgsmodell des Industriezeitalters – und anders als manche Transformationsbroschüre suggeriert, ist sie nicht etwa „veraltet“. Sie ist hoch effizient. Hoch spezialisiert. Hoch stabil. Viele Unternehmen verdanken ihre Skalierbarkeit genau dieser Strukturform. Und doch wirkt diese Organisationsform in volatilen Umwelten auf einmal wie ein Siloimperium, das sich selbst im Weg steht.

Was die funktional getrennte Organisation so stark macht

Funktionen konzentrieren Expertise, erzeugen routinierte Abläufe und sorgen für klare Zuständigkeiten. Sie bilden professionelle Heimat und ermöglichen Spezialisierungsgrade, die keine andere Strukturform leisten kann. Das ist kein Schönreden historischer Artefakte – es ist ihr struktureller Kern. Die funktional getrennte Organisation ist das Catenaccio des Organisationsdesigns: kompakt, sicher, berechenbar. Ein System, das gewinnt, indem es Risiken austrocknet.

Warum sie an ihre Grenzen stößt

Sobald die Umwelt mehr Varietät liefert, als durch funktionale Filter verdaut werden kann, beginnen die Silos, ihre eigenen Taktzeiten zu produzieren. Informationen wandern, werden interpretiert, weitergereicht, verzerrt – und Entscheidungswege werden zu Verzögerungsketten. Es ist nicht böser Wille. Es ist Struktur. Die funktional getrennte Organisation scheitert nicht an Menschen. Sie scheitert an Übergängen.

Die Wertstromorganisation: Integration als Weltanschauung

Wertstromlogiken wurden nicht erfunden, weil Silos unmodern sind, sondern weil Unternehmen in bestimmten Umwelten schneller entscheiden müssen, als funktionale Logiken es erlauben. Hier rücken Kompetenzen zusammen, die sonst über Etagen verteilt sind. Hier werden Entscheidungen nicht weitergereicht, sondern gemeinsam hergestellt. Projektstrukturen verfolgen diesen Ansatz schon seit Jahrzehnten. Nur geraten auch diese Strukturen, projektgemanaged und geleitet von den weiter bestehenden, lokalen Rationalitäten der Linienfunktionen, bei hoher Dynamik unter unaushaltbare Last. Die Wertstromorganisation verzichtet auf diese künstliche, funktionale Trennung der Wertschöpfung und integriert alle notwendigen Funktionen. So weit – so gut.

Die Stärken der Wertstromorganisation

Weniger Schnittstellen, weniger Missverständnisse, weniger Verzögerung. Mehr Tempo, mehr Integration, mehr Nähe zu Kund:innen und Marktimpulsen. Wertstromstrukturen sind das Tiki-Taka des Organisationsdesigns: kurze Wege, unmittelbare Entscheidungen, hohe Reaktionstiefe.

Auch die Wertstromorganisation hat ihren Preis

Tiki-Taka braucht vor allem eins: Hohe Laufbereitschaft und Kondition. Wenn der Linksverteidiger plötzlich zum Schienenspieler wird, der Stürmer zur „falschen 9“ avanciert und der Torhüter wie ein Libero zwischen die letzte Kette rückt, dann entstehen eben Redundanzen. Wertstromorganisationen verlieren funktionale Tiefe, erzeugen Doppelstrukturen und kämpfen mit innerer Koordination. Sie lösen alte Konflikte nicht – sie verschieben sie. Und sie können nur dann glänzen, wenn die Umwelt tatsächlich Varietät produziert, die diese Dynamik rechtfertigt.

Das Missverständnis der idealen Struktur

Die Frage „Welche Struktur ist die beste?“ ist falsch gestellt. Organisationen können Komplexität nicht eliminieren – sie können nur entscheiden, wo sie verhandel wird. Die funktional getrennte Organisation parkt Komplexität zwischen den Bereichen – an den Schnittstellen.
Die Wertstromorganisation parkt sie in den Teams und zwischen den Streams. Beide Lösungen sind richtig. Und beide sind teuer – nur auf unterschiedliche Weise. Wer glaubt, die Wertstromorganisation sei die natürliche Weiterentwicklung der Funktionsorganisation, verwechselt Organisationsdesign mit Evolutionstheorie. Strukturen sind keine Fortschritte. Sie sind Antworten.

Macht: Der Elefant im Organigramm

Wenn Reorganisationen scheitern, dann selten, weil das Organigramm fehlerhaft wäre. Sie scheitern, weil Macht sich neu sortieren muss. Funktionsbereiche verlieren Entscheidungshoheit, Wertstromverantwortliche gewinnen sie – oder umgekehrt. Das tut weh. Nicht nur politisch, sondern identitär. Eine Organisation kann Rollen restrukturieren, aber nicht darüber hinwegmoderieren, dass Menschen Einfluss verlieren. Wer also glaubt, ein neues Operating Model ließe sich einführen wie eine neue Software, müsste erklären, warum sich die härtesten Transformationen an Stellen entzünden, an denen niemand über Prozesse spricht – sondern über Status.

Die eigentliche Frage: Welche Struktur passt zu unserer Realität?

Die funktional getrennte Organisation passt, wenn Qualität, Tiefe, Skalierung und Prozesssicherheit dominieren. Die Wertstromorganisation passt, wenn Geschwindigkeit, Integration und Kundenvarietät entscheidend sind. Und manchmal passt: beides nicht. Denn viele Unternehmen bewegen sich heute in einer paradoxen Umwelt – stabil in Teilen, volatil in Segmenten, komplex in Nischen, simpel in Routinen. Wer dort antworten will, muss aufhören, Strukturen als Ideologien zu betrachten. Strukturen sind Werkzeuge. Nicht Bekenntnisse.

Wettbewerbsfähigkeit entsteht durch die Architektur des Entscheidens

Organisationen werden nicht durch Purpose stabil, nicht durch Agilität schneller und nicht durch Leadership inspirierter. Sie werden durch Entscheidungen wirksam – und durch die Wege, die zu diesen Entscheidungen führen. Die funktional getrennte Organisation ist kein Dinosaurier. Die Wertstromorganisation kein Upgrade. Beides sind Formen, wie Unternehmen ihre Welt interpretierbar machen.

Oder, um es im Fußballbild zu lassen: Es gibt keine perfekte Formation. Es gibt aber sehr wohl Formationen, die zum Gegner, zur Mannschaft, zum Spielstil und zu den aktuellen Anforderungen an Wettbewerbsfähigkeit passen. Die Frage, die sich Vorstände und Führungskräfte stellen sollten, lautet also nicht: „Welche Struktur ist modern?“ Sondern: „Welche Struktur erlaubt uns, die Umwelt zu bearbeiten, die wir tatsächlich haben – und nicht die, die wir gerne hätten?“

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Arne Schröder

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