Neben Pandemie und Klimakatastrophen treibt wohl kaum ein Thema so viele Sorgenfalten auf die Stirn vieler Unternehmer:innen wie „die Digitalisierung“. Als absoluter Megatrend zieht sich die Frage nach einem erfolgreichen Umgang mit der digitalen Wirtschaft seit Jahren durch die Unternehmen. Aber was ist das eigentlich – „Digitalisierung“?
Wenn ich das auf Fotopapier gedruckte Familienfoto auf den Scanner lege und in ein digitales Format auf einem Computer überführe – ist das „die Digitalisierung“?
Ist „Digitalisierung“, dass ich heute nicht mehr in eine Telefonzelle gehe und Münzen in einen Automaten werfe, um zu telefonieren? Oder ist der Telefonautomat schon Digitalisierung? Butter bei die Fische: Digitalisierung ist kein Megatrend des 21. Jahrhunderts. Digitalisierung ist streng genommen ein alter Hut.
Neu ist die Geschwindigkeit des technologischen Fortschrittes und der damit einhergehende Wandel in Wirtschaft und Gesellschaft. Die Ursache für Sorgenfalten von Unternehmer:innen ist dann also doch nicht die Digitalisierung, sondern Veränderungsgeschwindigkeit. Und damit sind wir bei der Frage: Warum fällt vielen Unternehmen Veränderung so schwer?
Überraschung!
Ständig müssen Unternehmen heute mit Überraschungen umgehen. Dauernd nerven Wettbewerber:innen mit Produktinnovationen oder ganz neuen, disruptiven Geschäftsmodellen. Hinzu kommt, dass Markteintrittsbarrieren sich in vielen Bereichen und Branchen drastisch reduzieren oder gar auflösen. In der digitalen Wirtschaft sind nicht mehr Größe und Marktmacht entscheidend, sondern smarte Lösungen, ein Gespür für den Markt und die Fähigkeit, sich veränderten Marktbedingungen flexibel anpassen zu können. Am Ende geht´s darum, Probleme zu lösen, die außerhalb des Unternehmens liegen und dabei die Bereitschaft zu erzeugen, dass Menschen oder Unternehmen sich für unsere Lösungen freiwillig von ihrem Geld trennen wollen.
Und um direkt zum Punkt zu kommen: Die meisten Unternehmen sind nicht für Veränderungen gemacht, sondern für die administrative Abarbeitung des immer gleichen Problems.
Die meisten Unternehmen funktionieren noch genauso wie vor über hundert Jahren, als Frederic W. Taylor die Grundlagen der wissenschaftlichen Betriebsführung zu Papier brachte.
Und Taylor bezog seine Ideen auf einen Markt, der stillgehalten hat und wenig mit der Dynamik heutiger Märkte gemeinsam hatte. Die Zeit war damals eben eine andere: Die Prämissen des Industriezeitalters sind mit denen der heutigen, digitalen Wirtschaft kaum zu vergleichen. Träge, weite Verkäufermärkte, auf die sich Taylor bezog, ergeben eine völlig andere Logik der Unternehmensführung als die hochvernetzte, digitale Wirtschaft von heute. Eine Überraschung von außen war für die Tayloristische Organisationen eine seltene Ausnahme. Der Erfolg eines Unternehmens begründet sich, unter diesen Voraussetzungen, durch die möglichst kosteneffiziente Abwicklung des Normalfalls, also des immer gleichen Problems.
Der Faktor Mensch
Es war klug, auf Effizienz und Standardisierung zu setzen. Wenn der Markt ignoriert werden kann, dann geht´s darum, dass „Human Ressources“ im System funktionieren und programmierbar sind. Der „Faktor“ Mensch wird hierbei systematisch aus der Organisation ausgeschlossen. Kreativität, Intelligenz und menschliches Potential gelten als Störfaktor in der standardisierten Wertschöpfung. Wehe es kommt jemand auf eine Idee und fängt an zu diskutieren! Gesabbel ist schließlich ineffizient, und der „Faktor Mensch“ eine Ablenkung, die kalt gestellt gehört. Ein fairer Deal, wie Taylor schreibt. Wer für 8-10 Stunden Motivation und Bedürfnisse beiseitelegt, um als Rädchen im System diszipliniert seiner Arbeit nachzugehen, der wird mit einer sehr fairen Vergütung, Freizeit und Urlaub belohnt.
Die Tayloristische Idee ist eine einmalige Erfolgsgeschichte in der Wirtschaft, der wir unseren heutigen Wohlstand zu verdanken haben. Das Erfolgsrezept Taylors: Komplexitätsreduktion.
Damit dies gelingt, bedarf es dreier Prinzipien:
1. Formale Hierarchie: Oben wird gedacht, unten wird gemacht
2. Ab-teilungen: Auftrennung der Wertschöpfung in kleinstmögliche Arbeitsschritte
3. Management: Wenn der Markt stillhält, dann kann langfristig geplant und anschließend auf disziplinierte Prozessbefolgung geachtet werden
Das Problem: Märkte haben sich seither stark verändert. Unsere Gesellschaft ist eine andere. Die Überraschungsdichte ist heute so hoch, dass der Erfolg eines Unternehmens sich nicht mehr nur durch die administrative Abwicklung des Normalfalls begründet, sondern immer mehr auch durch die flexible Bewältigung der Ausnahme.
Würdest du auf einer Schreibmaschine eine App installieren?
Und während Planungshorizonte und Produktlebenszyklen heute immer kürzer werden, die Veränderungsgeschwindigkeit immer weiter zunimmt und die Anforderungen der Kund:innen sich immer individueller ausdifferenzieren, setzen die meisten Unternehmen weiterhin auf wissenschaftliche Betriebsführung, wie sie 1911 von Frederic W. Taylor formuliert worden ist.
Und HIER liegt das eigentliche Problem der Digitalisierung:
Die Tayloristischen Organisationen sind extrem leistungsfähig, wenn sich im Markt nichts verändert. Sobald sie mit Dynamik umgehen müssen, kollabieren sie. In der globalvernetzten, digitalen Wirtschaft nimmt die Überraschungsdichte so stark zu, dass die auf Stabilität und Wiederholbarkeit ausgelegten Strukturen und Prozesse tayloristischer Organisation schlicht und ergreifend zu langsam sind.
Das ist kein Problem der Digitalisierung, sondern eins der Organisationen. Oder würdest du eine App auf einer Schreibmaschine installieren? Natürlich nicht. Der Gedanke ist absurd, das passt nicht zusammen.
„Hurra, wir werden agil.“
Zum Glück scheint es da eine Wunderpille zu geben: Agilität.
Was bei der Diskussion über agile Zusammenarbeit häufig übersehen wird folgt der gleichen Logik wie die der App und der Schreibmaschine. Wer agile Methoden in eine Tayloristische Organisation „installiert“, der bekommt keine agile Organisation, sondern einen Systemfehler. Zwar ist der agile Methodenkoffer voller brauchbarer „Apps“ – Der vielfach zu beobachtenden Anfangseuphorie folgt jedoch meisten schnell Ernüchterung und Frustration. „Das kann bei uns nicht gehen.“, oder „Scrum haben wir schon probiert. Das war nichts für uns. Wir machen jetzt Kanban.“.
Und auch dieser Griff in den agilen Methodenkoffer wird weitere Frustration auslösen. Es ist schon ganz richtig: „Das kann bei uns nicht gehen“. Die Hardware unterstützt diese Tools ja nicht. Das gleicht dem Versuch, eine App auf einer Schreibmaschine zu installieren. Geht nicht. Dafür kann die App nicht – die Schreibmaschine muss ersetzt werden.
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Digitalisierung findet statt – ob mit oder ohne Digitalisierungsprojekt
Der Markt erzieht Organisationen gerade zur Digitalisierung. Es wird offensichtlich: Es muss gelernt werden, um weiter bestehen zu können. Die Digitalisierung ist kein Projekt aus dem Zentrum der Organisation. Sie ist schlichtweg notwendiges, von außen diktiertes „Übel“, um die Überlebensfähigkeit der Organisation zu sichern.
Der Wandel einer Organisationen zu einer am Markt lernenden, flexiblen Unternehmung ist keine Wahl des oberen Managements, sondern Voraussetzung für die Zukunft von Unternehmen in der digitalen Wirtschaft.
Der Wettbewerb bietet immer mehr (neue) digitale Lösungen und stößt damit auf Resonanz im Markt. Dieser differenziert sich dadurch weiter aus. Die Wahl für Kund:innen wird größer. Es wird enger im Markt. Geschäftsprozesse digitalisieren sich und es entstehen ganz neue Geschäftsmodelle. Das Konsum- und Kommunikationsverhalten der Kunden ändert sich. Die digitalen Lösungen von heute sind komplizierter, die Leistungserbringung im Unternehmen wird dadurch komplexer. Der Markt transformiert Unternehmen in die digitale Welt. Dafür braucht es kein Projekt. Entweder das klappt oder eben nicht.
Das passt nicht
Menschen mit unterschiedlichen fachlichen Expertisen, die heute meist in monofunktionalen Ab-teilungen organisiert sind, müssen dafür noch enger zusammenarbeiten. Das erhöht Abstimmungsbedarfe und Koordinationsaufwände. Immer häufiger passen die Prozesse nicht zur notwendigen Problemlösung. Statt die offiziellen Wege zu nutzen, entsteht Cliquenwirtschaft auf gleich mehreren Hinterbühnen, damit überhaupt noch was läuft. Die Leute klagen – nachvollziehbar – über Dauerüberlastung.
Schließlich müssen – neben der eigentlichen Arbeit – weiterhin Reportingstrukturen und Managementinstrumente aus der Tayloristischen Mottenkiste bedient werden, um die Steuerungsillusion der Organisation für das Zentrum aufrecht zu erhalten.
Statt den Blick nach außen, zum Markt zu richten, muss sich weiterhin ständig mit (mittlerweile) unpassenden Steuerungsintentionen des Zentrums beschäftigt werden. Die hohen Koordinationsaufwände fressen große Teile der Zeit, die eigentlich so dringend zur Lösung der Kund:innenprobleme gebraucht würde. Wertschöpfung verstopft. Schnittstellenprobleme werden immer häufiger zu Schnittstellenkatastrophen. Hier entstehen Konflikte, die eigentlich nur Ausdruck der strukturellen Dysfunktionalität sind.
HIER geht Geschwindigkeit verloren. HIER scheitern die Projekte.
Kooperation zwischen Abteilungen findet oft auch nur auf einem Mindestlevel statt, wenn überhaupt. Denn das Problem ist systemimmanent, und da helfen auch Appelle nicht. Es wird schließlich nicht Kooperation belohnt, sondern Abteilungsziele. Kein Wunder, wenn diese dann oberste Priorität im Mittelmanagement genießen. Daran hängt ja schließlich der Bonus.
Einen Sinn ergibt es immer
Menschen verhalten sich sinnvoll, wenn wir uns den Kontext genauer anschauen. Während der Einkauf noch 6 % sparen muss, will das Produktmanagement unbedingt noch die so wichtige Kampagne umsetzen, um nochmal auf den Ladenhüter aufmerksam zu machen. Die vereinbarten Absatzzahlen liegen schließlich noch in weiter Ferne…
Dieses alltägliche Businesstheater könnte jetzt noch über mehrere Akte fortgeschrieben werden.
Transformation oder Digitalisierung – was denn jetzt? Beides, aber bitte nicht als Projekt!
Den Status Quo des heutigen Unternehmens “smart” und digital zu machen wird nicht ausreichen. Aber es ist erst einmal notwendig. Um nicht morgen schon den Anschluss zu verlieren, müssen viele Unternehmen einiges aufholen. Alte und vor allem neue Produkte müssen schnellstens marktreif als digitale Lösung entwickelt werden.
Um die aktuellen Wunden zu heilen, helfen Innovation Sprints und Labs aus dem agilen Werkzeugkoffer durchaus. Vielleicht sind sie sogar das Mittel der Wahl, wenn die aktuelle Organisation nicht imstande ist, diese Veränderungen im Regelbetrieb voranzutreiben. Der geschützte Kontext, in dem andere Regeln gelten, fördert i.d.R. Entwicklungen so innerhalb von Wochen, die sonst eher Jahre gebraucht hätten.
Und dann?
Die Ursache der heutigen Probleme liegt nicht in den fehlenden digitalen Lösungen (oder nur für den Moment).
Das ist lediglich die Symptomebene. Um der Schnelllebigkeit der heutigen Wirtschaft begegnen zu können, muss die Organisation grundsätzlich lernen, wieder mit Komplexität umgehen zu können.
Morgen kommt schon die nächste Überraschung. Dann braucht es wieder eine neue Idee.
Unternehmen werden nicht auf Dauer bestehen können, wenn für Innovationsvorhaben eine Parallelorganisation notwendig ist. Zumal regelmäßig zu beobachten ist, dass gute, neue Ideen doch keine Resonanz im Markt finden, wenn Sie nach der Entwicklung „an die Linie übergeben“ werden. Das liegt nicht an den häufig sehr guten Ideen. „Die Linie“ passt nicht.
Die Linie ist die Schreibmaschine. Innovationen müssen mittelfristig IN der Organisation stattfinden können, getrieben durch die Bedürfnisse des Marktes. Minimalinvasiv und mit unmittelbarer Wirkung auf die Rahmenbedingungen der Organisation. Die Organisation muss eine lernende werden.
Digitalisierung bedeutet also am Ende, die Zusammenarbeit in der Organisation den Herausforderungen der digitalen Märkte anzupassen. Digitale Geschäftsprozesse und -modelle sind ein Ergebnis, das durch Zusammenarbeit herzustellen ist. Das wird aber auf der Schreibmaschine nicht funktionieren. Die Transformation ist eine strukturelle.