An einer gut frequentierten Kaffeemaschine eines mittelständischen Unternehmens:
„Endlich! Das Management Board hat gerade verkündet, dass wir jetzt agil werden!“ Jannek, Junior Projektleiter drückt bedeutungsschwer und auch ein bisschen euphorisch auf den Knopf der Kaffeemaschine und greift zeitgleich nach seiner Hafermilch.
„Wat soll der Schnickschnack denn nu‘ wieder?“ Armin Administrator nicht nur mit der Personalnummer 4, sondern auch mit einem unverkennbar hanseatischen Pragmatismus-Gen ausgestattet, verdreht genervt die Augen hinter seiner Hornbrille.
„Die Hafermilch? Na, ich bin doch …“ setzt Jannek an, um sich zu erklären, wird von Armin jedoch prompt unterbrochen.
„Ne! Nich‘ der Tüdelkram mit deiner Pflanzenmilch, ich meine, wovon du eben geschnackt hast.“
„Ach so. Du meinst den Change hin zum Agilen. Na, das machen doch jetzt alle so! Damit können wir den Herausforderungen der VUKA-Welt viel schneller und flexibler begegnen. Wir müssen uns einfach besser an unseren dynamischen Markt anpassen.“
„Change. Agil. VUKA-Welt. Bei dem Gesabbel frag ich mich, wie wir die Pandemie eigentlich überlebt haben, wo wir doch angeblich so langsam und unflexibel sind. Vielleicht sind wir ja schon agil und es hat bloß noch keiner gemerkt! Macht ihr man. Aber lasst mich in Ruhe, wenn ihr wen sucht, der das Chaos wieder aufräumen soll. Nix da!“ Mit einer abwinkenden Handbewegung und sich die Brille hochschiebend, trottet Armin zurück in sein – wie die Kollegen zu sagen pflegen – Kabuff.
Jannek zuckt mit den Schultern. Wenn er meint. Er wird sich die Freude auf seine neue Rolle als Scrum Master jedenfalls nicht von diesem Meckerpott vermiesen lassen, so viel steht fest.
Dieser Gesprächsausschnitt ist wohl beispielhaft für viele Kaffeeküchen- und Raucherecken-Diskussionen nach dem offiziellen Ausruf der agilen Trendwende. Und ganz ehrlich an alle Armins da draußen: I feel you. Denn aus meiner Rolle als Organisationsentwicklerin durfte ich bisher zwei zentrale Erfahrungen machen:
- Agile Silos lösen kein Problem.
- Kaffeeküchen und Raucherecken beherbergen einen Großteil der kollektiven Intelligenz eines sozialen Systems. Hinhören lohnt sich. Jedenfalls meistens.
Da ich insbesondere Punkt eins nicht so undifferenziert stehen lassen möchte und ansonsten vermutlich auch Gefahr laufe, der Armada von eingesetzten agile Coaches Unrecht zu tun, möchte ich im Folgenden meine Perspektive darstellen. Insbesondere aber auch, weil ich als Kurswechslerin aus unterschiedlichen Organisationen – von KMU bis hin zu Großkonzernen – immer wieder eines vernehme: Den Schrei nach Agilität und das Fordern agiler Methodik. Ihnen wohnt die Hoffnung inne, sich wie Schmierstoff für das einst so gut geölte Getriebe der Organisationsmaschinerie zu verhalten. Oder zum Laufen zu bringen, was immer wieder kurz vorm Absaufen steht: Den Motor der Organisation.
Aber Obacht: Erstens ist eine Organisation keine Maschine und zweitens ist die Wahrscheinlichkeit etwas kaputt zu reparieren sehr hoch, wenn das Problem noch nicht verstanden wurde. Also Butter bei die Fische, Ärmel hochkrempeln und erstmal das Problem verstehen.
Das „reflexartige Verlangen nach mehr Agilität“ gestaltet sich nämlich als äußerst nachvollziehbar, führt man sich vor Augen, dass sehr unterschiedliche Organisationen heutzutage an einem sehr ähnlichen Krankheitsbild leiden. Die Rede ist von „verstopfter Wertschöpfung“. Die Symptome verstopfter Wertschöpfung lassen sich recht gut diagnostizieren. Insbesondere dann, wenn ein Kunde mit einem „Sonderauftrag“ droht, der über die Linie zwar nicht abbildbar ist, aber monetär so verlockend klingt, dass er nicht abgeschlagen werden kann. In den meisten Organisationen wird dann eine abteilungsübergreifende Projektteamgruppe gebildet, die sich dadurch auszeichnet, dass jedes Projektgruppenmitglied mit maximal 10% Restkapazität eingeplant werden kann, da es parallel noch vier weitere wichtige Projekte zu wuppen hat und – ach ja, fast vergessen – das sogenannte Tagesgeschäft ist natürlich auch nicht vernachlässigbar. Ist ja logisch. Und als wäre das allein nicht schon zeitfüllend genug, sollten auch die Lenkungsausschüsse nicht vergessen werden, die das Projektgeschehen nach bestem Wissen und Gewissen steuernd und priorisierend flankieren und bei denen die Projektgruppen zum Rapport – bzw. Report vorstellig zu werden haben, um über Fortschritte im Projekt zu berichten (eigentlich: berichten zu müssen). Land auf Land ab sind ganze Projektgruppenheere damit beschäftigt, über professionell-wirkende PowerPoint Präsentationen den Eindruck zu erwecken, das Projekt sei in Scope, in Budget und in Time. Und ganze Lenkungsausschusslegionen wiederum damit, sich nicht anmerken zu lassen, dass sie das, worüber sie entscheiden oder priorisieren sollen, eigentlich gar nicht beurteilen können, weil sie von den Kunden und ihren Sonderwünschen viel zu weit weg sind. Dafür wurden ja nun auch extra ab-teilungsübergeifende Projektgruppen gebildet …
Fakt ist: Reaktionen auf überraschende Änderungen dauern in diesen hysterisch gewachsenen Strukturen viel zu lange. Der Prozessoverhead ist immens. Und der Tag, an dem eine adäquate Entscheidung am Ort des Problems getroffen werden darf, ohne einen hierarchischen Spießrutenlauf betreiben zu müssen, wird sehnlichst herbeigewünscht, ist am Horizont aber nicht erkennbar.
Spätestens an dieser Stelle ist der Hilfeschrei nach Agilität und alternativen Modellen der Zusammenarbeit wohl mehr als nachvollziehbar. Der Versuch von Organisationen über die lokale Einführung von Scrum, OKR, KANBAN und Co. Zusammenarbeit agiler zu gestalten und sich intern schlanker zu organisieren, führt meistens leider genau zum Gegenteil: Die Wertschöpfung verstopft noch mehr als vorher.
Wie auf ihr Stichwort lässt auch die Raucherecke verlauten, dass ein eisiger Wind herrsche und dass sich diese Beobachtung nicht aufs Wetter, sondern aufs Unternehmensklima bezöge … Nein, es liege aus ihrer Sicht nicht am agilen Mindset der Kollegen, wie es teilweise im Management Board diskutiert wird. Trainings dazu hätte man ja schließlich zu Genüge gehabt. Woran es liegt, könne man sich aber auch nicht erklären. „Vielleicht waren wir vorher schon viel agiler als gedacht.“ Gibt Jannek zu bedenken, der vor lauter Frust mit dem Rauchen angefangen hat und zu allem Überdruss Armins Worte nicht mehr vergessen kann.
Jein.
Was in vielen Organisationen an dieser Stelle passiert, gleicht dem Versuch, eine App auf einer Schreibmaschine programmieren zu wollen. Ich weiß, schräges Bild und diesem aussichtlosen Vorhaben würde sich wohl auch niemand hingeben. Klar, ergibt ja auch keinen Sinn, eine neue Software aufzuspielen, wenn die originäre Hardware es gar nicht zulässt. Das ist spannend, denn als Organisationsentwickler bei Kurswechsel beobachten wir genau das in der Praxis extrem häufig. Organisationen versuchen sich permanent im Installieren neuer Software, ohne zu berücksichtigen, dass ihre Hardware dafür komplett ungeeignet ist. Was meinen wir Kurswechsler damit, wenn wir von organisationaler Hardware sprechen? Ganz einfach, das Organisationsdesign. Die meisten Organisationen kommen organisationsstrukturell als Pyramide oder als Matrix daher. Zur besseren Nachvollziehbarkeit fokussieren wir uns im Folgenden auf eine typische Pyramidenorganisation. Getreu dem Motto „Oben wird gedacht und unten wird gemacht“ ist eine Pyramidenorganisation perfekt darauf ausgelegt, immer wiederkehrende (bekannte) Probleme abzuwickeln. Vereinfacht gesagt, ist eine Pyramidenorganisation auf die administrative Abwicklung der Norm ausgelegt. Herrscht eine geringe Dynamik am Markt und ändern sich die Kundenanforderungen nicht, ist sie die perfekte organisationale Hardware, um Arbeitsteilung zu organisieren und Komplexität zu reduzieren. Insbesondere Ab-teilungen oder zu Neudeutsch „Silos“ haben in diesem Kontext ihre unbedingte Daseinsberechtigung. Nämlich immer dann, wenn ein eher fraktales Produkt angeboten wird, wie beispielsweise in der Automobilproduktion. Damit ist wohl offensichtlich, dass der Zenit der Pyramide eng mit den Marktgesetzen des vorausgegangenen Industriezeitalters verbandelt ist. Die Pyramide ist keinesfalls ein Schandfleck der Betriebsführung, sondern vielmehr eine geniale Erfindung Frederick W. Taylors zur Arbeitsgestaltung im Kontext primär komplizierter Wertschöpfung. Context matters.
Heute funktionieren Organisationen vielfach immer noch nach der gleichen Logik wie vor ca. 80 Jahren. Und hier liegt das Problem. Denn der Markt hat sich verändert. Er hält nicht mehr still. Eine Überraschung jagt die nächste. Standard war gestern. Zudem ist alles miteinander vernetzt. Willkommen im Informationszeitalter, dessen einzige Konstanten die stete Veränderung und der Zuwachs von Komplexität sind. In vielen Unternehmen bricht das Chaos aus. Dafür kann die Pyramide nichts, sie ist schlichtweg nicht für den Umgang mit Überraschungen gebaut. Statt sich zu fragen „Wie werden wir so richtig schnell und flexibel?“ wäre die erste Frage „Was ist unser extern referenziertes Problem?“. Statt nach innen in die Organisation zu schauen, sollte die Marktsicht etabliert werden. Was fordert der Markt? Was treiben die Wettbewerber? Wo geht die Reise hin? Erst wenn die Problemursachen einer Organisation aufgedeckt und verstanden sind, kann auch an wirksamen Lösungen gearbeitet werden. Dabei können agile Frameworks wie Scrum und Co. kontextbezogen hilfreich sein, um eine lernende Organisation zu fördern, sie sind jedoch weder als Selbstzweck noch als Blaupause zu verstehen. Als Organisationsentwickler gilt daher: Ohne den genauen Kontext einer Organisation zu kennen, kann auch nicht seriös beurteilt werden, ob und welche Methodik zum Einsatz kommt. Und um an dieser Stelle sehr spitzfindig zu sein: Methodik sagt, wie etwas gemacht werden soll. Sie adressiert per se komplizierte Problemstellungen. Es sind die Werkzeuge (neben Intuition und Kreativität), die den Könner dabei unterstützen durch Komplexität zu navigieren.
Wenn Kurswechsel Kundinnenunternehmen auf dem Weg zu einer lernenden Organisation begleitet, dann legen wir Wert darauf, dass das Werkzeug zum Problem passt, denn sonst ist niemandem geholfen.
Gemeinsam mit Vertreterinnen aus der Organisation gestalten wir Strukturen und Rahmenbedingungen, über die Organisationen sowohl in der Lage sind, mit dynamischen und komplexen Marktanforderungen umzugehen als auch die Abwicklung der Norm über schlanke Prozesse und Praktiken zu bewerkstelligen, ohne dabei in (agilen) Meeting-Marathons, Lenkungsausschüssen und E-Mailfluten zu versinken. Die Fähigkeit von Organisationen mit dynamischen Märkten umgehen zu können, bezeichnen wir in Anlehnung an den geschätzten Kollegen Dr. Gerhard Wohland als Dynamikrobustheit. Dynamikrobustheit gibt es nicht als Framework, Rezept oder Prozessanweisung. Wir sprechen aber aus Erfahrung, wenn wir sagen, dass Wissen über das Eigenleben von Organisationen, Unternehmenskultur und Wertschöpfung immens dazu beiträgt, die richtigen Denkwerkzeuge auf den individuellen Unternehmenskontext anzuwenden. Denn die Lösung aller organisationalen Probleme liegt im System selbst. In Resonanz mit einem scharf gestellten Problem, können wirksame und nachhaltige Ideen zur Schaffung von Rahmenbedingungen entwickelt werden, um den Umgang mit stetiger Veränderung durch den Markt zu ermöglichen.
Übrigens: Armin hat das vorher schon gewittert. Mit einem unfehlbaren Riecher für Organisationshygiene, ist er derjenige der das ursprünglich gebildete Transformationsteam dabei anführt, eingeführte Praktiken, Methoden und andere Moden (so sagt er das) wegzunehmen. Da wo es Sinn ergibt, versteht sich. Und Jannek, der hat zwar nicht mit dem Rauchen aufgehört, dafür in Armin aber einen hervorragenden Meister in Sachen Organisationsentwicklung gefunden. Eine Erkenntnis hat er schon ziehen können: Organisationsentwicklung überfrachteter Pyramiden hat tendenziell mehr mit Wegnehmen als mit Hinzufügen zu tun. Oder um es mit Armins Worten zu rezitieren: Agil ist eben nicht genug.