Die Begriffe Werte, Wertesysteme oder Wertvorstellungen werden in der Literatur und in Artikeln im Internet oftmals im Zusammenhang mit Leitbildern, Unternehmenskultur sowie Ethik und Moral erwähnt und beschrieben. Sie stellen somit eine Art ausgesprochene und erkennbare Orientierungshilfe für eine Gruppe von Menschen dar. Auf weitere tiefergehende Definitionen und Ableitungen des Wortstamms wird an dieser Stelle verzichtet, da das Ziel des Artikels keine philosophisch korrekte Untersuchung, sondern ein Aufzeigen von gesellschaftlichen und betriebswirtschaftlichen Zusammenhängen ist.
Wir leben in einer Zeit, die von einem gewaltigen Wandel in Bezug auf den technologischen Fortschritt geprägt ist. Die vielen Veränderungen, die damit einhergehen, sorgen für eine starke Verunsicherung in der Gesellschaft. Politische und geopolitische Ereignisse werden hier im Land als Bedrohung und Gefährdung von Wohlstand und Sicherheit wahrgenommen. Ein Großteil der Bevölkerung fühlt sich zuweilen überfordert ob der gewaltigen technischen Entwicklungen und der vermeintlich gestiegenen Erwartungen an die Fähigkeiten jedes einzelnen.
Ein Phänomen ist noch relativ neu aber massiv zu beobachten: Die Unsicherheit und Unzufriedenheit des einzelnen entlädt sich in einer gewaltigen Wut auf den Schuldigen. Aber wer ist der Schuldige? Natürlich jeder außer mir! Die Schuldzuweisungen in der Gesellschaft haben einen derart intensiven Charakter bekommen, dass angefangen vom Staatsoberhaupt, dem Firmenchef, der direkten Führungskraft oder dem Vermieter, Vater oder Bademeister… alle für meine Situation zur Verantwortung zu ziehen sind. Und weil es sich in der Anonymität so schön pöbeln lässt, werden die digitalen Medien für Unmutsäußerungen in alle Richtungen genutzt. Verrückte Welt!
Liegt die Lösung der Probleme wirklich in den Fähigkeiten des einzelnen?
In Organisationen können in Phasen größerer Veränderungen die immer gleichen wiederkehrenden Mechanismen beobachtet werden: Der Grad der Unzufriedenheit wächst stetig auf allen Ebenen. Firmenchefs beklagen sich über die fehlende Weitsicht und strategischen Fähigkeiten des mittleren Managements. Die mittleren Führungskräfte fühlen sich alleine gelassen mit den großen Herausforderungen und äußern ihren Unmut über die fehlende Veränderungsbereitschaft, das mäßige Engagement und die überschaubare Motivation der Mitarbeiter. Und die Mitarbeiter wiederum schimpfen auf die komplette Führungsmannschaft und signalisieren Unverständnis über Fehlentscheidungen und mangelndes operatives Knowhow.
Eine naheliegende Lösung, die historisch bedingt immer als erstes aus dem Hut gezaubert wird, ist die Notwendigkeit, dass die betroffenen und beteiligten Menschen sich verändern müssen. Führungskräfte werden auf Schulungen geschickt, um sich in Bezug auf Fach- oder Veränderungsthemen zu qualifizieren und um die versteckten Motivationsknöpfe der Mitarbeiter leichter finden zu können.
Im Zeitalter der Industrialisierung bis weit ins zwanzigste Jahrhundert hinein hat das sicherlich gut funktioniert, da in dieser Zeit eine Führungskraft gleichzeitig der beste Spezialist war. Eine zusätzliche Qualifizierung hat den Chef befähigt, andere Prozesse oder inhaltliche Vorgaben auf den Weg zu bringen, so dass die Mitarbeiter dem folgend per Anordnung das Problem gelöst haben. Führung in dieser Zeit kann als eine Art „Führung durch Aufgaben“ bezeichnet werden. Die Mitarbeiter bekamen Geld und Sicherheit für die Erfüllung von Aufgaben und Prozessen.
Im weiteren Zeitverlauf wurde diese Möglichkeit durch die noch immer sehr verbreitete „Führung durch Ziele“ erweitert, wobei die Freiheitsgrade der Mitarbeiter klar angehoben wurden, um die vorgegebenen Ziele zu erreichen. Hier wird der Versuch unternommen, Motivation durch die eigenständigere Verantwortung der Mitarbeiter bei der Gestaltung des Weges zum Ziel zu erzeugen. Probleme bei der Zielerreichung haben aber auch hier zur Folge, dass Qualifizierungen der Mitarbeiter notwendig erscheinen, um mehr Motivation oder Qualität zu produzieren.
Wie funktioniert die Motivation der Menschen?
Beschäftigen wir uns näher mit der intrinsischen Motivation, also mit den inneren Antreibern, dann wird schnell klar: die Fähigkeiten des Einzelnen löst die Probleme unserer Zeit nicht! Die intrinsische Motivation ist von Geburt an voll ausgeprägt. Diese treibt uns Menschen an, krabbeln oder essen zu lernen. Auch das Klettern auf den ersten Baum wird uns nicht beigebracht, sondern basiert auf dem inneren Antrieb, die Herausforderung zu schaffen. Im Laufe unseres Lebens wird uns diese intrinsische Motivation abtrainiert und abgewöhnt, da wir uns selbst immer weniger Gedanken machen müssen und uns immer häufiger gesagt wird, was wir zu tun und zu lassen haben.
Kann intrinsische Motivation beeinflusst werden?
Die Lösung für das Dilemma steckt in der Regel in den Systemen, in denen wir Menschen leben und arbeiten – also in den Familien, Abteilungen, Sportvereinen oder Skatrunden… Statt mit den einzelnen Menschen zu arbeiten, um diese „verbessern“ zu wollen, ist es wesentlich effektiver, sich mit den Systemen zu beschäftigen. Hier sollten die notwendigen Rahmenbedingungen geschaffen werden, damit sich die Individuen frei entfalten, maximal motiviert und eigenverantwortlich die Arbeit verrichten und die Probleme lösen zu können. In privaten Systemen ist das oftmals leichter, da Menschen, die im beruflichen Kontext hochgradig unmotiviert und unzufrieden sind, in anderen Umfeldern aber verantwortliche Herausforderungen hochmotiviert annehmen. Es ist immer wieder verwunderlich und für Auftraggeber überraschend, wie sich das Engagement von Mitarbeitern verändert, wenn diese in Veränderungsvorhaben gestalterisch einbezogen werden und die Möglichkeiten entstehen, als Kollektiv gemeinsam an den Herausforderungen arbeiten zu dürfen.
Welche Aufgabe hat Führung in diesem Veränderungsprozess?
Als moderne Führungskraft sollte im Fokus jeglichen Handelns die Unterstützung der Teams und Mitarbeiter stehen. Die Gestaltung der optimalen Rahmenbedingungen, damit Teams selbstbestimmt und –organisiert am maximalen Kundennutzen arbeiten können, ist Kernaufgabe und wesentlicher Antreiber. Als Bezeichnung für eine derartige Art zu führen, könnte „Führung durch Sinn“ sein. Der Schriftsteller Antoine de Saint-Exupéry („Der kleine Prinz“, 1943) wurde u.a. bekannt durch das Zitat, das diesen Führungsansatz sehr bildhaft untermauert: „Wenn Du ein Schiff bauen willst, dann trommle nicht Männer zusammen, um Holz zu beschaffen, Aufgaben zu vergeben und die Arbeit einzuteilen, sondern lehre sie die Sehnsucht nach dem weiten, endlosen Meer.“
Wie kann die Orientierung an Werten die Entwicklung unterstützen?
Im System bzw. Team muss ermittelt werden, was den einzelnen in Bezug auf die Zusammenarbeit und den Weg zur Erreichung seiner Ziele wichtig ist. Damit gibt man diesem Team die notwendige Grundausrichtung für eine erfolgreiche selbstorganisierte und wertebasierte Gestaltung eines Produktes bzw. Arbeitsergebnisses. In modernen Arbeitsformen wie Scrum (innerhalb oder außerhalb der Softwareentwicklung) werden fest verankerte Wertesysteme in der Regel mitgeliefert, die eine wichtige moralische und ethische Wurzel für eine Gemeinschaft darstellen können. Im Beispiel Scrum orientiert sich das Team an den Werten Fokus, Offenheit, Respekt, Mut und Selbstverpflichtung. Gelingt es einem Team, sich Schritt für Schritt auf diese Werte einzulassen, einen Konsens zu finden und diese konsequent zu leben, dann entsteht im Teamentwicklungsprozess eine starke Bindung, in der die Teamergebnisse eine größere Wertschöpfung liefern, als die Ergebnisse der einzelnen Individuen.
Ist ein Wertewandel in der Gesellschaft möglich?
Wenn es den Unternehmen und anderen Organisationen gelingt, dass die Arbeit in selbstorganisierten Teams die bevorzugte Form der Zusammenarbeit darstellt, und diese Teams sich konsequent auf gemeinsame Werte ausrichten, dann steht einem stetigen Wandel auch in der Gesellschaft nichts im Wege. Jeder Teilnehmer am Arbeitsleben – egal ob Mitarbeiter, Führungskraft oder Firmeninhaber – sollte bei sich selbst anfangen, seine eigenen Werte zu überprüfen und ggfs. neu auszurichten. Dann kann jeder einzelne als Vorbild mit dazu beitragen, die Welt ein wenig lebenswerter zu machen. Wenn wir Menschen wieder lernen, eine Haltung zu entwickeln, die geprägt ist von Respekt und einem positiven miteinander, dann werden sich dem auch die Nachzügler nicht dauerhaft verschließen können.